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Prosa

Sonnenblumen auf blauem Grund

 

Nun ist sie tot, sagt die Frau und versucht sich für ein Gesicht zu entscheiden, das der Nachricht angemessen ist. Sie wiegt den weißen Telefonhörer in der Hand und will ihn zu Kälte überreden. Doch er verwandelt sich nicht in Schnee, ist nicht bereit unter der Nachricht zu verschwinden, die er ausgeschüttet hat.

 

Der Junge neben ihr schaut sie an. Wer? Die Großmutter. Welche Großmutter? Deine. Wieso? Die Frau fasst nach dem Arm des Jungen, will ihn an sich ziehen. Doch der geht einen Halbkreis um sie herum, greift nach dem Hörer. Hallo! Piept die Großmutter, weil sie tot ist? Nein. Ja. Ich weiß nicht.

 

Die Frau versucht sich klein zu machen, damit sie hinter dem schmalen Rücken des Jungen Platz findet. Sie will die Tür nicht sehen, durch die sie hinauszugehen hat, um der toten Mutter zu begegnen. Um ein Leben wegzuräumen, in dem sie selbst kaum Platz gefunden hat. Das Telefon klingelt wieder. Der Onkel fragt, ob man ein Totenhemd anziehen soll oder ein Kleid. Ein Kleid, denkt die Frau. Der riesige Körper der Mutter taucht vor ihr auf. Jemand muss ihn die vielen Stufen nach unten getragen haben, durch den schmalen Hausflur, den sie damals so oft gewischt hatte. Auf den Knien hatte sie sich Stufe um Stufe hinuntergelassen, wenn sie das Treppenhaus wischen sollte, das Auch-die-Ecken der Mutter im Ohr, die oben am Absatz stand und auf sie hinunterblickte.

 

Plötzlich muss sie an Sonnenblumen denken, die jemand über ein unfreundliches Blau gestreut hatte. Aus einem solchem Stoff war der Vorhang im Bad der Mutter gewesen. Zog man ihn zu, ließ er kaum Licht durch. Der Blick sprang von Blüte zu Blüte, um einen möglichen Unterschied auszumachen. Doch sie schienen den Betrachter mit ihrer Symmetrie sogar dann verhöhnen zu wollen, wenn der Wind den Stoff bewegte.

 

Das Kind hält noch immer den Hörer in der Hand und ruft: Hallohallo, ist da der Tod? Der Onkel am anderen Ende hat sich in ein hilfloses Schluchzen gerettet. Ein Kleid, sagt die Frau, ein Kleid mit blauem Grund und Sonnenblumen. Der Onkel sagt, sie ist im Bad gestorben. Ja, sagt die Frau, was machen wir jetzt. Der Onkel schluckt sein Schluchzen hinunter und wiederholt die Frage, indem er das Fragezeichen am Ende ebenfalls verschluckt. Aber hat sie so ein Kleid. Ich weiß nicht, denkt die Frau, vergisst es aber zu sagen.

 

Als die Frau ihr das letzte Mal begegnet war, trug sie riesige graue Baumwollhosen, die über den Knöcheln von ausgeweiteten Gummis zusammengehalten wurden. Es war ein Geburtstag im Juni. Die Frau hatte einen Geldschein in eine bunte Karte gelegt und einen Strauß gekauft, dessen Blumen von grünen Drähten unnatürlich aufrecht in die Höhe gehalten wurden. Auf dem Weg vom Bahnhof versuchte sie dem Jungen, der an ihrer Hand ging (oder sie an seiner?) Fetzen ihrer Erinnerung auf die Schultern zu legen. Dass sie hier ein Kind gewesen war. Dass es links zum Stadion ging, wo sie mit Laufen und Springen goldene Medaillen gewonnen hatte. Siehst du den Schachtberg? Hier unter der Erde ist alles ausgehöhlt. Weißt du was Kupfer ist? Sie sprach laut, eher zu sich selbst, gegen den hiesigen Singsang der Sprache, der die Endungen verschluckte, so dass immer ein Restwort in der Luft hängen blieb. Schlammig dachte sie, wenn sie aus dieser Gegend kam, diese Art zu sprechen hatte etwas Verwaschenes, Undeutliches, etwas Schmuddeliges, als hätte man Sandkörner im Mund.

 

Der Junge war noch zu klein, um ihre Worte wegzuschütteln. Er ging neben ihr, neigte den Kopf, schien immer kleiner zu werden. Manchmal hob er den Blick und schaute aus einer unendlichen Ferne zu ihr herauf. Seine Augen waren von einem fast unnatürlichen Blau, das Weiß um die Iris makellos. Sie kaufte ihm Eis und Apfelsaft in einem kleinen Café. Er löffelte schweigsam und verschluckte sich am Saft. Als sie das Café verließen, spürte sie seine kleine klebrige Hand in ihrer. Gegenüber der Kirche mit dem sich neigenden Turm begann er zu weinen. Sie suchten nach einem Restaurant und stürzten zur Toilette.

 

Während der Junge zusammengekrümmt auf der Kloschüssel hockte und sich stöhnend erleichterte, blickte die Frau durch das schmale Fenster zur Kirche hinüber. Ihr Sohn und diese Kirche teilten sich in den gleichen Namen. Der Kirchturm neigte sich merklich, bewahrte aber seit Jahren sein fragiles Gleichgewicht. Ihr Großvater war Bergmann gewesen und hatte erzählt, man könne stundenlang mit einem kleinen Zug unter der Erde herumfahren. Wohin, dachte sie jetzt, dort im Dunkeln. Sie betrachtete ihren kleinen Jungen, der jetzt auch so gebogen dasaß und musste lachen. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Noch war sie eine Tochter, noch war da etwas, was sie vom gänzlichen Erwachsensein trennte. Auch wenn es nur eine Mutter war, wie die ihre. Aber vielleicht saß sie ja heute schon seit Stunden am Fenster, schaute auf den Weg hinunter und … wartete?

 

Die Kirchturmglocke schlug zwölfmal, als die beiden die Treppen vom Restaurant hinuntergingen. Der junge war blass, kleine Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Unterlippe. Die Oma hat doch Spielzeug? fragte er. Ja. Nein. Ich weiß nicht. Autos?

 

Sie hatte kein Spielzeug, keinen Kuchen, keine rote Brause. Ihr Blick schob die beiden, kaum hatte die mögliche Freude sich im vollgestopften Wohnzimmer verlaufen, schon wieder zur Tür. Es klingelte und die Tante und der Onkel traten mit einer Tortenschachtel in die Wohnung. Es war Erdbeertorte im Karton, an einer Seite war sie etwas angeschlagen, Pudding und Früchte klebten an der Pappe. Entschuldigung, sagte die Tante und dieses Wort war so fremd im Raum, das es für einen Augenblick sonderbar still wurde.

 

Die Mutter bemaß den Kaffee so knapp, das sich ein Nachschenken von selbst verbat. Der Junge versteckte sich hinter der Seitenlehne des massigen Sofas; einmal versuchte er, einen Knopf des Radiorecorders zu drücken. Nein, warf die Großmutter zu ihm herüber und dieses Nein war weniger als ein Ball, den der Junge hätte fangen können. Es war eher Stein, der ihn am Ohr traf. Er begann zu weinen. Doch die Großmutter stopfte nur Torte in ihren Mund.

 

Nach einer endlosen scheinenden, stillen halben Stunde brachte der Onkel die Beiden im Auto zum Bahnhof zurück. Ein heftiges Gewitter tobte über der Stadt, Sturzregen fiel und sammelte sich zu breiten Rinnsalen an den Scheiben des Zuges. Entschuldigung, sagte auch der Onkel, aber diesmal wurde es nicht still. Der Donner grollte noch immer und es war gut, jetzt nicht die verwaschene Sprache hören zu müssen.

 

Die Oma ist doof, sagte der Junge und wischte mit der Nase seines gelben Teddybären einen Kreis auf die beschlagene Scheibe. Ja. Nein. Vielleicht.

 

Die Oma ist tot, sagt die Frau jetzt und will Vernunft in ihre Stimme legen. Jetzt ist sie niemandes Kind mehr. Sie wird sich ein Kostüm kaufen müssen. Sie wird Auto fahren lernen. Sie wird aufhören müssen, auf etwas zu warten. Und sie wird über einen Verlust nachzudenken haben, der sich noch immer weigert, seine Leere in ihr zu signalisieren. Noch ihr fehlt nichts.

 

Sie sieht ihren Sohn auf dem Teppich sitzen. Er dreht mit einem kleinen roten Auto endlose Kreise. Es wäre schön, denkt sie, wenn er sie lieben könnte. Es wäre möglich, denkt sie, dass er sie hassen könnte. Am wenigsten aber wünscht sie ihm diese bleierne Gleichgültigkeit, die sich gerade in ihr breitzumachen droht.

 

Brumm, brumm, macht der Junge und das rote Auto fährt, ohne irgendwo anzuecken. Die Frau schließt die Augen. Blut war auf dem Boden gewesen, hatte der Onkel gesagt. Er habe es weggewischt. Sie weiß nicht, woher das Blut gekommen war. Sie versucht sich vorzustellen, wer den Körper der Mutter weggetragen hat. Fremde Hände tragen einen schweren Körper aus dem Badezimmer ihrer Kindheit. Dort gab es gelbe Plasteenten und ein blaues Shampoo, das in den Augen brannte. Das Badezimmer, in dem sie sich versteckte, wenn sie heulen musste. In das sie eingesperrt wurde, wenn sie etwas Falsches gesagt oder getan hatte. Das Badezimmer mit dem Spiegel über dem Waschbecken, zu dem immer zu wenig Licht gelangte, denn das Klo war durch einen Vorhang abgetrennt, einen Vorhang mit riesigen Sonnenblumen auf verwaschenem Blau. Die Haut wirkte hier immer blass und bläulich. Auch im Sommer.

 

Sie werden erst an den Armen gezogen und den Körper auf eine Trage gelegt haben. Und ein Geruch wird dagewesen sein, ein unvorstellbarer Geruch. Heute war ein Brief gekommen, der eine Rechnung über das Öffnen der Tür enthielt, ausgestellt von einem Mann, der einen Schlüsseldienst betreibt. Wie wird der ausgesehen haben, nachdem er die Tür geöffnet, also seine Aufgabe erfüllt hatte? Wie wird er gesprochen haben zu den beiden, die neben ihm standen und den Körper erblickt hatten, der da im Bad lag? Bestimmt war das Fenster angekippt, so wie es immer angekippt war.

 

Der Junge macht noch immer brumm-brumm. Das rote Auto zieht beharrlich seine Kreise. Wir werden verreisen, sagt die Frau zu ihm. Ihre Stimme klingt als habe sie jemand mit diesem Satz beauftragt. Ja, sagt der Junge, wir werden verreisen. Es wird aber nicht schön werden, sagt die fremde Stimme. Nicht schön, wiederholt der Junge und bewegt das Auto weiter im Kreis. Aber das Auto nehmen wir mit.

 

Am nächsten Tag steht die Frau früh in der Küche und bedenkt das Über-den-Tag-Kommen mit Schneiden von Brotscheiben. Sie füllt Tee in eine Thermosflasche und sagt schließlich zu dem Kind: Komm. Das Kind reibt sich die Augen und fragt: Wohin fahren wir denn? Zum Aufräumen, antwortet die Frau und fühlt sich plötzlich ungerecht behandelt mit dieser Reise. Tapeten, sagt sie und: Es wird Spaß machen. So grell hatte sie das Wort Spaß noch nie gehört.

 

Im Zug versucht sie, Sätze mit dem Kind zu wechseln. Sie liest ihm eine Geschichte von einem Jungen vor, der eine Katze verloren hat. Am Ende ist die Katze wieder da. Auf einem Bild stehen Vater, Mutter und Kind nebeneinander unter einem blühenden Kirschbaum. Und die Katze ist auch froh? fragt der Junge. Aber die Katze ist nirgends zu sehen.

 

Durch den Zug ruft eine Stimme: Nächste Station ist S. Dieser Zug endet hier. Bitte alles aussteigen. Alles, denkt die Frau, wir sind alles.

 

Aber wieso ist die Katze auch froh? fragt der Junge. Die Leute glauben, dass es so in Ordnung ist, antwortet die Frau und überlegt, ob die Münder der drei Leute unter dem blühenden Kirschbaum nicht doch nur Striche gewesen sind. Ich will aber wissen, ob die Katze froh ist, schreit das Kind und bleibt stehen. Ich weiß nicht, ob Katzen froh sind. Also doch. Was doch? Du hörst mich gar nicht. Komm jetzt, sagt die Frau, komm. Erst will ich meine Antwort haben. Das Kind stampft mit dem Fuß auf.

 

Die Frau betrachtet den grauen Steinfußboden und stellt sich vor, wie der Fuß des Jungen darin einsinkt. Und sie kann nichts dagegen machen, muss zusehen, wie er in der Erde verschwindet. Sie kniet vor ihm nieder, Tränen laufen über ihr Gesicht, als sie seine Schultern umfasst und fast unhörbar in sein Ohr flüstert: Ich glaube, die Katze ist die einzige, die froh ist.

 

Beide gehen aus dem Bahnhofsgebäude, überqueren den Vorplatz. Viele Male war die Frau in das Gebäude gegangen oder hinausgekommen. Doch heute erscheint ihr alles viel kleiner: das Bahnhofsgebäude, der Vorplatz, der runde Kiosk, die Bäume, das Museum mit Mammut … Ja sogar die Leute wirken kleiner und stiller. So geht also Erwachsenwerden, denkt die Frau, alles wird kleiner. Sie sieht den Jungen neben sich an, seine Gestalt wirkt jedoch wie immer.

 

Den Weg zur Siedlung im Süden wünscht sich die Frau lang, doch ahnt sie, dass auch er von dem Kleinerwerden nicht ausgenommen sein wird. In dieser Stadt gibt es keine Katzen, vielleicht weiß ich deshalb so wenig über ihr Frohsein. Der Junge zieht seinen gelben Teddybären aus dem Rucksack. So sieht es hier aus, Theo, sagt er zu ihm.

 

Sie haben die Siedlung erreicht. Zum Haus der Mutter führt ein schmaler Weg einen Berg hinauf. Der Name der Straße, in der das Haus steht, wurde schon ausgetauscht. Den neuen hatte sie aber schon wieder vergessen. Also sagt sie zu dem Jungen: Das ist die Leninstraße. Das ist, sagt der Junge zum Bären Theo, die Leninstraße.

 

Wieder etwas, was nicht stimmt, denkt sie, wie mit den Katzen, aber hier gab es nie Katzen, als ich klein war, und die Straße so hieß. Aber jetzt ist es noch immer dieselbe Straße, die aber anders heißt und die Halstücher von den Hälsen sind ebenso verschwunden wie das Immer bereit mit Ausrufezeichen. Hinter dem Haus der Mutter steht noch immer die Schule, in die sie und ihre Schwester gegangen waren. Dort lernen die Kinder noch immer etwas über Dreiecke und Kreise.

 

Die Halstücher waren auch einmal ausgewechselt worden, plötzlich waren sie rot und schmolzen unter dem Bügeleisen. Die anderen waren blau gewesen und schmolzen nicht und wurden von den Müttern gebügelt, ehe sie um die Hälse geknotet wurden, aus denen das Immer-bereit mit Ausrufezeichen kroch.

 

Einmal hatte die Frau sich selbst am Bügeln versucht und hielt plötzlich nur noch die Hälfte des roten Stoffdreiecks in der Hand. Erschrocken stellte sie das heiße Bügeleisen in den Kleiderschrank zurück und schmolz dabei riesige Löcher in die Kittelschürzen der Mutter. Fast wäre der Schrank abgebrannt, als sie unterwegs war, um ein neues Stoffdreieck zu kaufen. Die Treppen runter, zwei Mark aus dem Sparschwein in der Faust, war sie den Weg hinuntergerannt, den sie jetzt mit dem Jungen hinaufläuft, das Wort Leninstraße auf der Zunge balancierend, so als dürfe es nicht noch einmal aus ihrem Mund fallen. Aus dem Mund des Jungen klingt er wie der Name seines Teddybären – freundlich und gelb.

 

Sie stehen vor der überdachten Haustür mit der Nummer einundvierzig. Die Frau sieht den Namen der Mutter auf dem Klingelbrett. Der Briefkasten ist mit braunem Klebeband zugeklebt. Die Oma, sagt der Junge zum Bären, die Oma hat kein Spielzeug. Und außerdem ist sie tot.

 

Die Frau fühlt sich für einen Moment wie in einem dieser Filme, wo eine Musik einsetzt, eine schöne sentimentale Musik von allen Seiten, viele Geigen oder ein einsames Klavier, dann Schwenk und eine Einblendung von einem Gesicht … Im Kino wischt man sich verstohlen eine Träne von der Wange, fühlt sich wohlig traurig und schämt sich gleichzeitig ein bisschen.

 

Hier aber ist alles so still, nur hin und wieder klingt Klappern von Töpfen und Tellern aus den angekippten Küchenfenstern. Dann gehen wir Eis essen, sagt die Frau zu dem Kind, um ein Geräusch zu machen. Wann ist dann? Wenn wir hier fertig sind. Das Kind nickt und drückt seinen Teddybären an die Wange. Komm. Die Frau nimmt den Jungen an die Hand und gemeinsam laufen sie die Treppen nach oben. Mit der anderen Hand tastet sich die Frau am schwarzen Geländer aus Gummi vorwärts. Es fühlt sich seltsam warm an.

 

Die Tür zur Wohnung im vierten Stock steht offen, ein blauer Müllsack voller Tapetenreste lehnt dagegen. Auf einem Zettel steht mit ungelenker Schrift geschrieben: Macht bitte das Kinderzimmer fertig, Klaus.

 

Die Frau hält noch immer die Hand des Jungen umfasst, als sie in die Wohnung geht. Sie will etwas empfinden, aber sie fühlt sich leer wie die Räume hier. Es gibt keine Spur mehr von der Mutter. In drei Zimmern sind die Wände bereits nackt, die Beläge rausgerissen.

 

Sie geht mit dem Jungen in eines der Zimmer und deutet aus dem Fenster. In diese Schuledort bin ich als Kind gegangen. Der Satz hallt von den nackten Wänden wider und sie schämt sich fast, dass sie nur von sich redet, nicht von der Mutter, ihren Sesseln, ihren Bildern oder Hausschuhen. Dort sind wir Schlitten gefahren, hört sich die Frau wieder sagen, im Winter. Oh, sagt der Junge, und wo war dein Zimmer?

 

Komm. Sie gehen in das kleinste Zimmer, das ist eher ein Schlauch, mit einem Fenster am Ende. In der Scheibe ist ein winziges kreisrundes Loch.

Die Frau fürchtet plötzlich, es könne eine Geschichte geben zu diesem Loch, das wie ein Einschuss aussieht. Sie hofft, niemand möge sie ihr erzählen. Vielleicht war nur etwas dagegen geflogen, denkt sie, und sieht hinüber zur Schachthalde, die den Blick aus dem Fenster begrenzt. Der unförmige Steinberg scheint nähergekommen zu sein, er wirkt groß und bedrohlich.

Macht bitte das Kinderzimmer fertig, hämmert es jetzt in ihrem Kopf, das klingt so, als solle aus dem leeren Zimmer endlich eins für Kinder werden, ein buntes, ein freundliches Zimmer. Dieses hier aber ist leer, an den Wänden zeichnen sich Umrisse von Schränken und Bildern ab. Auf der Tapete sind große unnatürliche Blumen gleichmäßig auf rotem Grund verteilt. Sie scheinen die beiden in eine Art laue Fröhlichkeit versetzen zu wollen, wie dümmliche Witze das tun oder das Verdrehen von Sätzen.

Die Frau sprüht Wasser auf die Tapete und schiebt dann einen Spachtel unter die oberste Lage. Sie zieht einen großen Papierfetzen ab. Jetzt blickt sie in das Gesicht eines gelben Teddybären, der auf die darunterliegenden Tapete aufgedruckt ist. Sie zieht ein weiteres Stück eingeweichtes Papier ab und ein weiterer Bär wird sichtbar. Er ist braun und hat stechend blaue Augen. Das nächste Bärengesicht ist wieder gelb, seine Augen funkeln rötlich. Die Bären wirken verdrossen und müde. Der Junge starrt auf die Tapete und hält seinen Bären Theo in die Höhe. Dessen Knopfaugen sind braun. Nicht schön, murmelt der Junge jetzt, die Bären sind böse. Das müssen wir der Oma sagen.

Er nimmt die Hand der Frau, beide steigen auf einen Stuhl und dann auf das Fensterbrett. Am Himmel ist keine Wolke zu sehen …

 

 

 

Friedas Himmelfahrt

 

                                       Die Schönheit, die sich aus Verzweiflung herstellen lässt,

                                          rechtfertigt noch nicht die Verzweiflung.

 

 

Meiner geliebt gefürchteten Großmutter

 

Manche Leben gehen fast unbemerkt vorüber,

bevor jener Vertrag gelöst wird, den Körper und Seele miteinander geschlossen haben. Doch, ehe einer von beiden sich entschließt, der Ewigkeit ins Gesicht zu spucken oder sie zu umarmen, verhöhnt die Zeit eine stattliche Anzahl von Uhren.

 

Und GOTT sieht den Zeigern nach, wie sie ihre Runden drehen. Sein Himmel ist ein einziges Ticken in unterschiedlichen Tonlagen. Zuweilen wird er mit einem Tuch an den Gehäusen der Uhren reiben, damit wir das Glänzen für blinkende Sterne halten. Und wir halten das Glänzen für blinkende Sterne und den Himmel für einen Aufbewahrungsort für irgend etwas, etwas, dass uns nicht verloren gehen lässt.

 

Wer aufisst kommt in den Himmel

Wer betet kommt in den Himmel

Wer artig ist kommt in den Himmel

Wer die Kirchenbänke mit Wachs einreibt kommt in den Himmel

Wer nicht an den Fingernägeln knabbert kommt in den Himmel

Wer keine schlimmen Wörter sagt kommt in den Himmel

Wer nicht lügt

Wer nicht frevelt

Wer keine Steine nach Katzen wirft

Wer den Pfarrer grüßt

Wer aufisst …

 

UND WER DAS LEBEN AUSHÄLT UND SICH KEIN ANDERES WÜNSCHT

 

Großmutter starb am heißesten Tag des Jahrhunderts. Die Zeitungen berichteten davon, dennoch bestand die Möglichkeit eines noch heißeren Sommers, denn dieses Jahrhundert hatte noch fünf Jahre in der Westentasche. Die Zeitungen aber lebten in diesem Sommer von Superlativen, da er so heiß war, dass selbst das Lesen einer Zeitung eine erhebliche Mühe bedeutete.

 

Über Großmutters STERBEN jedenfalls berichteten sie nichts. Nur die VERWANDTENUNDBEKANNTEN ließen verkünden, dass sie TOT sei.

TOT, inmitten der gekonnt platzierten Fotos der SCHÖN BLUTENDEN TOTEN, der perfekt arrangierten Zugzusammenstöße und Flugzeugabstürze, der unglaublichen Regengüsse in der Nähe des Äquators; so nahm sich die schwarz umrandete Notiz fast wie ein Trost aus. Ein Trost mit einem Zweiglein garniert, der die Wahrhaftigkeit dieser Zeitung unterstreichen sollte, denn Großmutter hatte wahrhaftig gelebt.

Die Setzer werden geschwitzt haben, die Drucker, die Zeitungsausträger, alle werden geschwitzt haben und unter der Sonne gestöhnt, alle, außer Großmutter.

 

Der heißeste Tag des Jahrhunderts also war schon vorüber.

 

Großmutter hatte ihn zum Abschied genutzt.

Sie war gegangen wie sie gekommen war, leise, fast unbemerkt, bis zu jenem Tag, den die VERWANDTENUNDBEKANNTEN als den amtlichen Abschied festgesetzt hatten, wie es sich gehört.

 

Großmutter starb, als sie nicht mehr essen konnte. Einer namens Krebs, der weder ein Kind noch ein Freund war, hauste in ihrem Bauch. Großmutter hatte Rosinen in den Sauerbraten getan, die in der Soße schwammen und aussahen wie tote Fliegen. Auf ihren Kokoskuchen goss sie die Schokolade fingerdick. Ausgerechnet jetzt, in Zeiten des Überflusses, ließ dieser Namenskrebs sie verhungern, in dem er den Magen zerfraß, es nicht zuließ, das ALL DAS GUTE bis zum Herzen floss.

Großmutter tat Rosinen in den Sauerbraten und, obgleich sie aussahen wie tote Fliegen, war sie berühmt dafür, für das mürbe Fleisch, den guten Geschmack, die Würde, mit der sie bis zum Ende hin lebte, ohne einen Abfluss für Wasser in der Küche, ohne ein Spülklosett in der Wohnung, ohne die Fernbedienung des Fernsehers verstanden zu haben; sie konnte weder Auto fahren, noch Gleichungen mit drei Unbekannten lösen, weder dichtete oder malte sie.

 

Doch Großmutter hielt sich gerade. Und rollte das R hinten im Hals. Sie stammte aus

Militsch, Kreis Trachenberg, in Schlesien, wo die Großmütter heute noch immer Rosinen in den Sauerbraten tun, die aussehen wie tote Fliegen.

Dort, sagte sie, hatte sie alles verloren.

Alles ist etwas, was sicher nur GOTT in seiner Sprache annähernd bezeichnen konnte, Alles, das ist so etwas Unvorstellbares, wie das Ende der Welt oder etwas, das noch süßer ist als Honig. Alles – gewiss wird sie IHN nicht fragen, denn allein sie wusste wovon sie sprach, wenn sie ALLES sagte.

 

Auf der Suche nach dem Ort, von dem Großmutter sprach, sind nur Worte zu finden, Worte, die etwas umreißen, das in ständiger Veränderung unfassbar ist. Es sind Worte, die ein Empfinden nicht berühren, sie sind äußerlich, glatt und gezielt gewählt, zu einem Zweck geordnet, der weder befreiend noch beleidigend sein kann, dieser Zweck ist ein neutrales Gelände, wo sich niemand freiwillig aufhält oder gezwungen werden kann, sich aufzuhalten. Zwischen Buchdeckeln staut sich Geschichte, die Geschichte nachgeht, fern gefolgt von jenen, die Alles sagen und denen es nicht möglich ist, das näher zu benennen.

 

Militsch/poln. Milicz ), Kreisstadt, 55 km nördlich der Landeshauptstadt am linken Ufer der Bartsch, 105 m. 1136 erstmals als „castrum“, 1245 als „Burgflecken“ erwähnt, um 1300 deutsches Stadtrecht. Anstelle der ehemaligen Burg auf dem Hopfenberg und des 1797 durch einen Brand zerstörten Schlosses wurde 1797 – 1799 durch Graf Joachim Carl von Maltzan das neue Schloss, ein kuppelgekrönter klassischer Bau errichtet. Bis 1945 im Besitz der Freiherren von Maltzan. Besondere Sehenswürdigkeit ist der vor 1800 angelegte, damals erste und einzige englische Garten in Schlesien.

Ev. Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz als Fachwerkbau (1907 – 1714) mit drei Emporen, geschnitzter Kanzel im Rokokostil und wertvollem Taufstein. Katholische Pfarrkirche von 1818 – 1821 mit spätgotischen Halbreliefs, ohne Turm. Ev.-lutherische Kirche von 1845 ebenfalls ohne Turm. Das Rathaus von Militsch wurde 1945 zerstört.

Militsch wurde am 22.1.1945 von sowjetischen Truppen kampflos besetzt, jedoch zu

40 Prozent zerstört, 240 Gebäude vernichtet. 1939: 5390 Einwohner, 1970: 7581 Einwohner

 

Wo zwischen diesen Buchstaben ist der Ort für Großmutter, zwischen welches A und O kann sie schlüpfen um nach Hause zu kommen?

Sie sprach nicht von Kirchen, von Grafen nicht und wertvollen Taufsteinen.

Nur das R hinten im Hals hatte sich eingenistet und war ihr geblieben wie eine Ahnung von Heimat, für die man keinen Pass braucht.

All die Zahlen in den Glanzbüchern, die heute etwas heraufbeschwören, was Großmutter aus ihrem späteren Leben herauszuhalten suchte, entziehen sich jeglicher Vorstellung.

Sie errichten ein Gebäude für die Erinnerung, ein Gebäude mit Blutflecken auf den Steinen, von Blumen umrankt, deren Namen und deren Gestalt so vielfältig sind, dass es wehtut. Ein Gebäude, das zu betreten Großmutter über Jahrzehnte verwehrt blieb.

Sie hatte ihr R hinten im Hals mitgenommen, wie eine Konzession an etwas, das sie tief in ihrem Innern versteckt hielt, von dem sie nicht sprach, wenn sie ALLES sagte.

 

Dort in Militsch, Kreis Trachenberg, wo es den einzigen und ersten und englischen Garten gab, wurde Großmutter geboren. In einem großen alten Bauernbett vielleicht, als zweites Kind von insgesamt acht Geschwistern.

Dort war sie zur Schule gegangen, hatte Dinge getan, die alle Kinder tun, hatte gegessen, getrunken, aber irgendetwas an der Geschichte, die ich erzähle, scheint nicht zu stimmen; etwas Märchenhaftes ist in meinem Kopf, etwas Erdachtes, etwas, das mir nicht zusteht zu erzählen, weil ich von Dingen rede, die ich nie gesehen habe, weil ich Großmuter durch einen Ort laufen lasse, den ich nicht kenne, weil ich mich an den dünnen Seilen ihrer Geschichten festhalte, die oft schon so morsch sind, dass sie zu reißen drohen, weil ich im Arbeiter- und Bauerstaat das Wort Gerechtigkeit und Frieden so oft gehört habe, dass es in seiner inflationären Verwendung einfach an Wert verlieren musste, weil ich all diese Vertriebenenverbände hasse, die die alten Lieder mit so falschen Untertönen singen, weil ich noch immer nicht begreifen kann, dass es Großmutter nicht mehr gibt und ich mit Worten hinter ihr herlaufe, weil ich nichts anderes zur Verfügung habe, außer den Tränen, natürlich, aber auch die sind falsch oder haben am Wert verloren, wegen ihrer inflationären Verwendung, weil ich Großmutter nicht verzeihen kann, dass sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hat, weil ich die ganze Wahrheit nicht kenne und am wenigsten der ganzen Wahrheit selbst verzeihen kann, weil es sie nicht gibt. Und GOTT nicht, weil er sie verwaltet, so kleinlich, so halbherzig, weil er sie in Kirchen aufbewahrt, wo es wertvolle Taufsteine gibt und Epochen der Architektur, tote Schwalben, keine Türme und diese morschen Stoffe, aus denen Geschichten sind, die einzig und allein dazu gut sind, darüber hinwegzutrösten.

 

Schlesien gilt lange Zeit als „Luftschutzkeller“ des Reiches, weil es außerhalb der Reichweiten der angloamerikanischen Luftflotten liegt. Produktionsstätten der Industrie, wertvolle Kunstschätze und Bibliotheken, aber auch Behöreden werden aus dem kriegsgefährdeten Reichsgebiet nach Schlesien verlegt. (...)

Noch bevor die Alliierten im Juli 1945 in Potsdam zusammentreten, übergibt die Sowjetunion im Vorgriff auf die Beschlüsse die umstrittenen Gebiete schon im Juni 1945 der provisorischen Regierung Polens zur Verwaltung. Daraufhin beginnen in Schlesien und den übrigen deutschen Ostgebieten noch im Juni die ersten Austreibungen der deutschen Bevölkerung. Im August folgt eine zweite bis zum November andauernde, von Februar bis Ende 1946 eine dritte Austreibungswelle. Unmittelbar betroffen sind 3 121 000 Schlesier. Nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden verlieren 386870 schlesische Menschen durch Ermordung, Verschleppung oder Vertreibung ihr Leben.

 

Großmutter war in meinem Alter, sie hatte zwei kleine Kinder bei sich, vielleicht einen Mantel und einen Korb.

Und sie hatte schießen gelernt. Mit dem Jagdgewehr hatte sie auf Büchsen geschossen, bis die durchlöchert waren wie Siebe. Das war Sache der Zöllnerfrauen, wenn sie gerade nicht am Sauerbrateneinlegen waren oder Kinderkriegen oder Schokoladeschmelzen.

Als ein Soldat den Treck, mit dem Großmutter über die Grenze geschoben wurde, anhalten wollte, um einen Kinderwagen herunterzureißen, zog Großmutter das Jagdgewehr unter den Kleidern hervor.

Dass Großmutter nicht zu den 386870 Toten gehörte, hatte sie dieses eine Mal wohl doch GOTT zu verdanken, der kurz aufgeschaut hatte von seinen Büchern, um der Wahrheit ein winziges Quäntchen hinzu zu fügen.

 

Und Großmutter hielt sich gerade bis in ihr fünfundachtzigstes Jahr.

 

Großmutter hieß Frieda. Frieda, so steht es in den Namensbüchern, ist die Verkleinerungsform von Elfriede und dieser Name bedeutet die Zusammenfügung der Worte ELFE und SCHUTZ. Großmutter also war eine Art Schutzengel mit einer großen Suppenkelle und einem singenden R in der Kehle. Sie hatte tief grüne Augen, die sie mir mitgab wie ihren Namen zur Taufe als zweiten. Auch ich kann das R im Rachen rollen und sage Wrocław zu Breslau, doch Großmutter schüttelte jedes Mal den Kopf. Zu Streichhölzern sagte sie Spitzki, und keiner wusste, ob sie Recht hatte, wenn sie das Wort aussprach, als hätte sie Zitronensaft auf der Zunge.

 

Spitzki – das Feuer über Dresden, wo sie durchkamen auf ihrem Weg. Wo sie in einer Turnhalle lagen, als die Bomben fielen.

Großmutter löschte es später mit zwei Tränen, wischte es mitten im Satz energisch fort. Und fuhr nie wieder in diese Stadt. Die Karten, die ich ihr schrieb, fand ich später sorgfältig abgeheftet in einer Mappe, mit der Schrift nach oben.

 

Großmutter redete nicht viel. Am meisten aber redete sie in der Küche oder im Garten.

Im Garten stand die Kirche. Diese, ja, diese hatte einen Turm. Drumherum waren Beete mit Radieschen, Rettich, Erdbeeren, Zwiebeln, Himbeer- und Stachelbeersträucher, die Ammernbäume, von denen die Marder fraßen und dann die Kerne auf dem Glockenboden verstreuten, Apfelbäume, Birnbäume, ein riesiger Walnussbaum und Spargel, der in langen Reihen hinter der grünen Laube wuchs. Die Beete sahen aus, wie lange aufgeschüttete Gräber, als wären darin Schlangenmenschen begraben mit meterlangen Armen und Beinen.

 

Und Großmutter konnte Spargel stechen! Sie ahnte die kleinen blassgrünen Köpfchen unter der winzigsten Wölbung der Erde. Sie konnte den Spargel wachsen hören. Wenn er im Herbst nach oben schoss, band sie ihn in Blumensträuße. Sie hatte unheimlich viele Blumen im Garten, Tränende Herzen, Kartäusernelken, Astern, Sonnenblumen, Rosen, Löwenmaul, riesige Tulpen. Die meisten wuchsen vorn an der alten Friedhofsmauer aus Feldsteinen, die gerade so hoch war, dass man von drinnen die Köpfe der Vorbeilaufenden sah. Jeder konnte die Blumen sehen. Großmutter sprach mit den Blumen, schmeichelte, drohte, flüsterte, sang – und sie wuchsen. Meist hatte sie mehrere Sträuße im Keller. Oft kamen die Leute aus dem Dorf zu ihr und brauchten Blumen wofürauchimmer . Ihr Bitten begann meist mit einem dreifachen Klopfen an der Haustür und Frieda und vielleicht noch einem verlegenen Hüsteln, das Großmutter überflüssig fand. Sie verkaufte die Blumen nie teuer. Sie waren ja auch ihr Stolz und wären sowieso im Garten dahingewelkt, wenn auch langsamer als in den Vasen woauchimmer.

Früher war um die Kirche der Gottesacker. Fast schien es, als wären die Blumen hier bunter als anderswo.

Beim Graben fand man manchmal Zähne oder Knochen. Der Tod war mitten im Wachsen und Blühen, im Gedeihen und Werden, er bestand aus Knochen und den alten Grabsteinen, deren Inschriften von Regen und Wind schon fast eingeebnet worden waren.

Die waren keinen Kommentar wert, sie standen am Zaun, wo sie weder störten noch nützten. Dennoch hat Großmutter nie den Gedanken gehabt, sie auf den Schutt zu fahren, obgleich sie so ordentlich war, dass sie ihre Wäsche im Schrank Kante auf Kante legte und dreckige Fingernägel und zerwühlte Frisuren verabscheute.

 

Samstags vor dem Gottesdienst ging Großmutter in die Kirche und wischte die Bänke mit Möbelpolitur ab. Wenn wir über die nackten hölzernen Figuren kicherten, die die Kanzel flankierten, sagte sie langsam und ernsthaft: Du sollst nicht freveln.

Schwalben schwirrten unter der Decke, in den Schränken lagen alte Bücher mit Goldschrift. Viele Türen blieben verschlossen, als existierte ein von allen respektiertes Verbot. Der Pfarrer war ein riesiger Mensch mit einem fast viereckigen Schädel. Als ich noch klein war, hielt ich ihn für Gott, als er mit dröhnender Stimme von der Empore sprach …

 

Mit Großvater gingen wir immer auf den Glockenturm zum Läuten. Er schloss mit einem riesigen eisernen Schlüssel die Tür auf und ging die steilen Stufen nach oben. Dann öffnete er die Fenster in ALLEVIERHIMMELSRICHTUNGEN. In den Boden des Glockenturms war ein viereckiges Loch eingeschnitten, durch das man nach unten sehen konnte. Die Glocke hing oben. Großvater musste zum Läuten die Treppe hinuntergehen, wir standen im Turm, die Finger fest in die Ohren gepresst, und erwarten den ersten Schlag.

Später hingen im Turm drei Glocken. Gemeinsam bewegt, ergaben ihre Töne einen wunderbaren Dreiklang. Zu Feiertagen blieben die Finger nicht in den Ohren, denn Großvater brauchte unsere Hände an den Stricken.

 

Manchmal schoss er mit einem Luftgewehr Tauben vom Turm. Großmutter rupfte und briet sie. Ohne Federn waren sie viel kleiner, als wollten sie so noch das Erbarmen, was ihnen zuvor versagt geblieben war, erwecken.

Großvater war ihn Stalingrad gewesen und hatte zwölf Granatsplitter im Leib. Sie wanderten und meldeten sich, kleinen Sendern gleich. Sie meldeten, dass sich nichts mehr ändern wird an der Tatsache, dass der Krieg verloren war und das halbe Leben noch dazu. Dafür fehlte der halbe Magen. Der war auf der Strecke geblieben, verlorengegangen, der permanenten Leere gewichen.

 

Großvater wurde von einer Taube satt. Aber er hatte etwas mitgebracht aus Stalingrad, einen Husten, einen mächtigen Husten, der überall war, in Form von Spucknäpfen, die wie alte Blumenvasen aussahen und neben Bett und Sofa standen, auch in der Küche, neben dem Küchentisch.

Großvater brauchte lange zum Aufstehen. Er hatte uns beigebracht zu rufen: STEH AUF FAULER NEGER DIE SONNE SCHEINT ÜBER DIE DÄCHER! Wir hatten noch nie einen Neger gesehen und so war es ein Wort, das in einem Ritual gefangen, Jahre überdauerte. Großvater keuchte und hustete, er spuckte an langen weißen Fäden hängende Brocken in die Spucknäpfe, die wie alte Blumenvasen aussahen. Einmal fuhr er mit dem Schiff nach Leningrad, das früher Sankt Petersburg hieß, wie heute. Stalingrad hieß früher Wolgograd und jetzt auch wieder, weil es an der Wolga liegt und Stalin ein Mörder war, so dass eine Stadt sich unter seinem Namen ducken müsste. Einmal gab mir Großvater ein Buch von Jossif Wissarionowitsch Stalin mit; es war in Zeitungspapier gewickelt, die Zeitung hieß „Freiheit“ und ich hatte das Gefühl, als schmuggele ich eine verbotene Ware aus dem Dorf in die Stadt.

 

Dass die Zeit die Namen so umbog, hat Großvater nicht mehr erlebt. Er hätte es nicht verstanden, denn diese Stadt hatte er nie betreten. Er fuhr mit dem Schiff und schrieb in sein Reisetagebuch: ICH DANKE UNSEREM STAAT. Diesen Satz umrahmte er mit Bildpostkarten, Fotografien und seiner Bordkarte.

ICH DANKE UNSEREM STAAT schrieb der ehemalige Kriegsgefangene Otto B. an einem Sonntag auf ein kariertes Blatt Papier irgendwo auf dem Wasser, auf dem Weg von einem Frieden in einen anderen. Er wollte dem Staat danken, von dem er nur den Namen kannte und dieser Staat war in Form einer Bordkarte in zu ihm getreten, um ihm zu danken. Dafür zu danken, dass er noch lebte, um Tag für Tag in den sechzig Zentimeter hohen Schachtstollen zu kriechen um nach Kupferadern zu bohren, ihm dafür zu danken, dass er nach den zwölf Stunden Arbeit noch danke sagte, für alles, den Schachtschnaps, Flasche einsfünfzig, die kostenlose Milch und die Fahrt mit dem Bus in sein Dorf, mit einem verbilligten Fahrschein.

 

Einmal war Großvater eine eiserne Lore über den Fuß gefahren. Der Zeh war später nach innen gebogen und schmerzte bei Regen. Die Milch, die er von der Arbeit mitbrachte, schmeckte nach Pfefferminze.

 

Großvater hatte es mit dem STAAT und dem KRIEG. Und alle vier Jahre mit der OLYMPIADE.

Großmutter kaufte dafür ab und zu einen neuen Fernsehapparat. Den letzten mit Fernbedienung, die sie bis an ihr Ende wie ein Wunder betrachtete.

Großmutter war sparsam, sie konnte nichts wegwerfen, am wenigsten Brot. Die harten Kanten wurden aufgeschnitten und in winzigen Brocken mit Butter bestrichen lange gekaut. Und sie hob oft Sachen auf, die andere verloren hatten, Taschentücher, Kohlen oder Kartoffeln.

 

Großvater hatte einen Schrank voller Bücher. Die hatten viel mit KRIEG zu tun oder dem STAAT oder der SOWJETUNION. Im Krieg war Großvater UNTEROFFIZIER. Er konnte sich gut an die Farben der Kleider erinnern, die Großmutter auf den Offiziersbällen in Berlin trug. Großmutter war dort in Stellung bei einer Gräfin, als sie sich kennen lernten. Sie hatte sehr langes Haar…

 

Nach ihrer Hochzeit in Militsch kaufte sie sich jede Tasse vom Rosenthaler Porzellan einzeln. Die Tassen konnten nicht mit, als sie alle weg mussten, als sich die Grenzen um den Zankapfel Polen erneut verschoben, auch nicht die große bauchige Kaffeekanne.

 

Sie blieben in Militsch, wurden wohl unter den Mauern eines dieser 240 Gebäude begraben, zerstört, zertreten, zerschmissen oder mit Wodka gefüllt, mit Milch oder dünnem Hafertee. Vielleicht, vielleicht hält ja jetzt, gerade jetzt jemand eine davon in der Hand und sieht aus dem Fester, auf die Straße, es ist ein ruhiger Tag, kein Regen, kein Schnee, kein Sturm, es ist einfach ein ruhiger Tag und er betrachtet die Tasse und kann sich an ihre Herkunft nicht erinnern, er setzt sie an den Mund und sie fällt, ja gerade jetzt wo ich das schreibe, aus seinen Fingern, zerbricht oder zerbricht nicht

Und dabei fällt sein Blick vielleicht auf die feinziselierte Inschrift auf dem Boden: Rosenthal in feinem Rosé geschrieben und er wird sie aufheben, die Scherben kitten oder das noch einmal verschonte Gefäß zurück auf den Tisch stellen. Und vielleicht dankt er GOTT dafür, dass er vorbei ist, dieser Tag, ohne Regen, ohne Sturm, ohne Schnee, ohne Krieg.

Oder er wird denken, dass Scherben Glück bringen und zu hoffen beginnen, dass das Glück mit vollen Armen nun endlich auch an die Tür seines Hauses zu klopfen gedenkt.

Später, als Großmutter mit ihrer Familie im Mansfeldischen wohnte, sammelte sie Tassen. Zu allen Feiern hatte jeder der Gäste eine andere Tasse aus feinem Porzellan.

Doch unter jeder stand ein anderer Name. Rosenthaler gab es erst viele Jahre später wieder.

 

Als Großvater gestorben war, trug Großmutter ein langes schwarzes Kleid mit einer silbernen Anstecknadel. Ihr Gesicht war sehr weiß und sehr glatt. Sie stand gerade und blickte zum Himmel.

Großvater starb an einem kalten Herbsttag. Es war dunkel und trübe und die Zeitungen schwiegen dazu. Großmutter schwieg auch und verteilte viel Geld unter die Kinder und Enkel.

Sie bekam noch ein Urenkelkind, das die gleichen grünen Augen hatte wie sie, nur waren die gelben Sprenkel darin weniger geworden.

Sie ließ die Linde vor dem hundertjährigen Haus absägen und vergaß oft in den Nächten die Lichter zu löschen. Zu Weihnachten sang sie So nimm denn meine Hände oder sie rezitierte Die Glocke von Schiller.

 

Dann hörte sie auf zu essen, unmerklich fast, es war immer etwas weniger, was sie zu sich nahm. Sie wurde kleiner und schmaler. Sie hätte einfach verschwinden können, so unauffällig, wie sie gelebt hatte.

Doch ihre Tochter merkte es; und legte sie in ein Bett im verlassenen Kinderzimmer.

Über einer Kiste voller Puppen der Enkelkinder lag Großmutter nun, sehr gerade, und starrte nach oben auf eine schmutzige Tapete, die den Himmel verstellte. Und während die Tochter nebenan in der Küche am Fenster Zigaretten rauchte, kam es vor, dass Großmutter aus dem Bett fiel und die Puppen mit falschen Namen ansprach. Die Tochter nebenan rauchte zollfreie Zigaretten, die sie bei den kleinen fremden Menschen an der Kaufhalle kaufte, die sie Fitschies nannte. ZOLLFREI hätte Großmutter nicht gefallen, und Rauchen schon gar nicht.

Manchmal sengte die Glut schon die Finger der Tochter, ehe sie sich erinnerte, dass Großmutter drüben lag und mit den Puppen sprach.

Dann begann sie zu kochen und zu braten. Doch Großmutter hatte aufgehört zu essen und dem KREBS in ihrem Bauch schmeckte das Essen nicht, obwohl VIEL GUTE BUTTER dran war.

Uns ließ sie nicht rein, die Frau die fremd und breit in der Tür stand und behauptete unsere Mutter zu sein. Es wäre zu eng in der Wohnung und Großmutter würde sowieso nichts essen. UND ALLES IST ZU VIEL. So fuhren wir mit Großmutters Geld in der Welt herum und schickten Postkarten aus HAMMERFEST und VENEDIG.

Großmutter starb, als ihre Tochter gerade am Fenster eine Zigarette rauchte, und sie ausdrückte, ehe die goldene Schrift auf dem weißen Papier zu verschwinden drohte.

Die Tochter teilte der Post mit, sie solle den Enkelkindern mitteilen, dass Großmutter verstorben war. LEIDER. Die Zeitungen teilten den Lesern mit, dass es der heißeste Tag des Jahrhunderts gewesen sei. Das Jahrhundert hatte noch fünf Jahre und noch so ein heißer Tag schien undenkbar.

 

Am Abschiedstag trugen alle schwarze Kleider und gingen hinauf zum Gottesacker, der sich jetzt oberhalb des Dorfes auf einem kleinen Hügel befand. Großmutter lag in einem hellbraunen Eichensarg mit goldenen Griffen. Die Hitze kroch in die kleine Kapelle. Der Pfarrer stotterte am DREIUNDZWANZIGSTEN PSALM und draußen zogen Wolken auf. Dieser Psalm hatte Großmutter und Großvater zu ihrer Hochzeit vor dreiundsechzig Jahren vereint. DER HERR IST MEIN HIRTE murmelte der Pfarrer; er war klein, unscheinbar, er war neu und kannte Großmutters Hand nicht auf den Kirchenbänken, wie sie putzte und wischte, er kannte ihre Stimme nicht, ihren Satz nicht DU SOLLST NICHT FREVELN, er murmelte und würgte am Psalm, an der Hitze, am Tod.

ER WEIDET MICH AUF EINER GRÜNEN AUE UND FÜHRET MICH ZUM FRISCHEN WASSER ER ERQUICKET MEINE SEELE ER FÜHRET MICH AUF RECHTER STRASSE UM SEINES NAMENS WILLEN UND OB ICH SCHON WANDERTE IM FINSTEREN TAL FÜRCHTE ICH KEIN UNGLÜCK DENN DU BIST BEI MIR DEIN STECKEN UND STAB TRÖSTEN MICH DU BEREITEST MIR EINEN TISCH IM ANGESICHT MEINER FEINDE DU SALBEST MEIN HAUPT UND SCHENKEST MIR VOLL EIN GUTES UND BARMHERZIGKEIT WERDEN MIR FOLGEN MEIN LEBEN LANG UND ICH WERDE BLEIBEN IM HAUS DES HERRN IMMERDAR

 

Die Wolken draußen waren zusammengezogen und erste Blitze zuckten auf die Gräber nieder. Ihr Licht ließ die Gesichter in der Kapelle aufleuchten, in denen Erschrecken war, eine seltsame Art von Angst, aber auch enttäuschte Erwartung. Die Stille, die sie sich erhofft hatten, um ihrer Trauer eine angemessene Form zu geben, wurde gestört. Hagel prasselte plötzlich gegen die Scheiben und das Donnergrollen zwang den Herrn Pfarrer zuweilen zum Schweigen.

 

Eins der winzigen Bleiglasfenster der Kapelle sprang auf und gab den Blick frei auf den widerspenstigen, grau verhangenen Himmel. Großmutter saß auf einem Wolkenstück und schüttelte die winzigen Fäuste. Sie trug ein Kleid aus einem Stoff, der alle Blumen aus ihrem Garten miteinander vereinte: Tränende Herzen, Kartäusernelken, Astern, Sonnenblumen, Rosen, Löwenmaul, riesige Tulpen. Auf dem Wolkenstück neben Großmutter thronte eine bauchige Kanne aus Rosenthaler Porzellan, Tassen schwirrten gleich Vögeln um ihren Kopf, sie waren mit kleinen Rosen bemalt. Sie sang lautlos und aus ihren Augen sprangen spitze grelle Blitze in Richtung der Kapelle.

 

Das war das Ende der heißen Tage. Der heftige Regen weichte den Boden auf und die VERWANDTENUNDBEKANNTEN hefteten ihre Blicke auf den schlammigen Weg und hielten sich mühsam aufrecht. Großmutter sang SO NIMM DENN MEINE HÄNDE, die Orgel versuchte ihr auszuweichen, in dem der Organist die Töne verfehlte. Großvater saß plötzlich neben ihr, umfasste ihre Hände, Großmutter streckte den Rücken und hielt sich sehr gerade.

Blumen wurden in die Grube geworfen, weiße steife Blumen, die wie Plaste aussahen, und Schaufeln voller Erde. Eine Eile kam auf, als wären die Anwesenden bei einer Lüge ertappt worden. Die Männer vom Bestattungsinstitut holten klappernd ihre Schaufeln aus dem Wagen und entledigten sich ihrer schwarzen abgeschabten Anzüge. Sie trugen Turnhosen darunter in verwaschenem Blau und Grün, als sie die klebrige Erde in ein Loch schaufelten, das die Form eines Bettes hatte.

 

Ich stand am Zaun und ließ mir den Regen in den Mund rinnen, er schmeckte nach dicker Schokolade auf Kokoskuchen, nach Rosinen, nach Sauerbraten, eingekochten Erdbeeren und Spargel. Und ein bisschen nach bittersüßem Zimt.

 

Und plötzlich wurde mir kalt, ich schrie in den Himmel; es war ein anderes Wort für Abschied, ein Wort, wie es auf der Erde nicht zu finden ist, ein großes Wort ohne Umrahmung, ein Wort, das durchsetzt war von Glück und Angst, von Dankbarkeit und Wut, von Traurigkeit und kalter Erde und der Süße von Früchten nach einem erlösenden Regen...

 

Großvater winkte, sein Mund schien zu sagen DIE SONNE SCHEINT ÜBER DIE DÄCHER

Großmutter hatte mir den Rücken zugedreht. Schon wieder sah sie etwas, was sie mir verschwieg.

 

 

 

 

Sach-Zitate: Fritsche, Heinz Rudolf: Schlesien. Bechtermünz Verlag, Augsburg 1991

 

 

 

 

 

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