das abwesende haus meines vaters
I
mein vater ist immer nur auf
halber sohle gegangen
in der backstube umkreiste er
seine mehlweiße welt
dem ofen riss er
das maul auf um
feuer zu legen
auf dem kopf trug er ein
käppchen aus vergänglichem stoff
das hielt ihm das
haar in der nähe
damit keiner sagte sein
brot wäre grau in der scheibe
mein vater dachte worte
wie zuckersalzhefeundmehl
kakaucrememilchundschokololade
kardamomingwerundzimt
so sprach er in der
vierten stunde des morgens
mit sich dann
verschwieg er sich über den tag
mein vater ist immer
nur auf halber sohle
gegangen
er durfte das brot nicht
erschrecken das in den
körben aufging seine winzigen
kinder die täglich wuchsen
um ihn zu verlassen
viermal schnitt er mit
sicherer hand in die haut
und strich mit dem pinsel
den schmerz aus dem raum
er hörte die hitze im rechten
moment im knacken der scheite
schob laib um laib in die hölle
zog paradiesische krusten
heraus die tauschte er
gegen blitzblanke münzen
die er ohne zu zählen
in einer kiste verwahrte
mein vater wurde selbst
zu einem brot doch
keiner getraute sich
davon zu essen
II
mein vater bewohnte
ein vierflügliges haus
im hof herrschte
ein hund namens hasso
der über die jahre
die fellfarbe wechselte
um zum schluss
immer kleiner zu werden
im stall fraßen sich
schweine dem schlachter
entgegen für die hühner erfand
mein vater eine
besondere sprache
mit nur einem vokal und
stetig wechselnden
konsonanten
mein vater ist
immer nur auf halber
sohle gegangen
in den stuben des hauses
starben drei mütter
manchmal winkte eine
hinter einer gardine wenn mein
vater den hof überquerte
mein vater ist immer auf
halber sohle gegangen
gefügt und gebogen
erhitzt und gebrannt
stetig und still
machte er sich den teig und
die brote zu täglich
wechselnden freunden
und aß
wenn er allein war
am liebsten
tiefdunkles fleisch
III
mein vater ist immer
auf halber sohle gegangen
halb hat er eine frau geliebt
ein viertel blieb für die kinder
die waren weder formbarer teig
noch vergängliche kruste
an den sonntagen brachte er kekse und
ein anderes schweigen mit in die stadt
verwuchs mit dem sessel
in die vierte stunde
des montags hinüber
nahm dann sein käppchen
vom haken flüsterte
zuckersalzhefeundmehl
kakaucrememilchundschokololade
kardamomingwerundzimt
stopfte dem hungrigen ofen
das maul und sich die
sprache zwischen die
lippen zurück
IV
dann hat mein vater das
backen verlernt wie das
sprechen seine mehlweißen hände
winken die tage vorüber
manchmal greift er
nach einem will ihn begrüßen
doch immer fehlt es
an wörtern im satz
bis der tag sich
davon stiehlt
wie seine brüder
gestern und morgen
V
mein vater
ist immer auf halber sohle
gegangen
sein schuhe waren am ballen
durchlöchert an den
fersen wie neu
als man ihn fand
und mit ihm davon fuhr
sein leeres haus hat
seine flügel ausgebreitet
und sich im nahen wäldchen
umgebracht –
all colours will agree in the dark
ein belichtetes gedicht
I
dunkel wird es in der stadt
nie ganz
immer ist da noch eine
tagspur übrig wie ein rest
etwas wonach sich jetzt keiner
mehr unbedingt umdrehen muss weil
die temperatur von erwartungen
mit jeder minute absinkt jetzt
wagen sich die geisterbäume in die gezirkelte
landschaft winken mit der müdigkeit
von fremden deren atem voller
abenteuer ist die wiesen scheinen
wie seltsame wasser
rufen in wellenschlägen nach
empfindsamen sohlen jetzt
wäre selbst in der stadt etwas wie
stille möglich doch dunkel wird es
nie ganz und es ist immer ein rauschen
über den dingen die aggretgate
summen zaubersprüche in die leeren straßen
streuen kühle lichtpartikel über die
entladerampen heben begrenzungen
aus dem grund vergolden
den mächtigen brückenpfeiler
es ist ein trauriges märchen
in diesem licht ohne mauersegler ohne trügerisches
rot ohne bordeaux all colours will agree in the dark
das klingt als würden sie einander
an den fingern fassen um sich der
landschaft zu bemächtigen sie zu trösten
diese landschaft die keine landschaft
mehr ist eher: ein gelände
ein gelände der abwesenheit eine
gigantische bühne ohne akteure über die der
rauch wie giftige zuckerwatte aus den essen
weht all colours will agree es wäre ein grau ein
silber vielleicht ein
unentschiedener ton voller ruhe
aber sie teilen sich in ein
bitteres grün ein hämisches violett ein frostiges
blau nur ab und zu gießt sich tröstliches
gelb wie honig zwischen die wände ein sog ein
augentunnel für die heimkehrer die in den
turmhäusern wohnen in denen man den satz
mit den katzen sagt wenn man das licht meint
oder die nacht diesen satz der die gegenwart
der tiere auf den straßen ebenso ausschließt wie
die möglichkeit von landschaften nachts
im gelände
II
in den turmhäusern warten akteure und
statisten auf ihren einsatz den morgens
die sonne gibt ein signal zur belebung
der szenerie: lumiere selas svet
lys feny lumo luz light birta svetlost
licht lumen light lumiere svet selas lamba …
dann schweigen auch die
blinkenden lichter das tränenauge der
kühltruhe das müde gesicht einer elektrischen
zahnbürste das tröstliche hell eines
verlassenen fensters der bildschirm
an dem ein dichter die spur
einer katze ins dunkel verfolgt …
all colours will agree in the dark
nachts sind die katzen grau die sich
nicht aus dem schatten wagen nachts
hat das wort licht
ein anderes gewicht nachts ist es
eine leistung ein produkt
ein schattenwort von gedämpftem klang
ein augenanker der das gelände
an der landschaft hält: selas birta luce
swiatlos lumen luz svet light feny licht
lamba lumiere selas …
Zweiter halbierter Dialog
Der Mond – eine freundliche Frau im tief
dunklen Himmel Die Sonne
ein hitziger Mann der die Erde mit
Fingerspitzen entzündet
Wenn sie sich treffen ertönt
eine dunkle Musik aus
erhabenen Perlen einer Dezime
die alles umfasst Wenn
sie ihn verdeckt – ein Schatten
nichts weiter Und doch:
Wie ihre Namen uns
nachgehen in einer Sprache die
wie ein blindes Pferd in
den Abgrund stolpert aus Höhlen
voll bleicher Töne Schwüre
Formeln Befehle Und
Der Himmel ist offen
la lune le soleil la luna il sol
Babels wackliger Turm der
voller Lust die rechten
Winkel beleidigt die ach!
Symmetrie der Gedanken
Und den Bogen den weichen
der bebenden Herzwand erwärmt –
Nur eine Summe von Lauten
Die aus dem Halsrohr schnellt
Aus der Mundhöhle bricht
Über die Lippenschranke
Ein blutleerer Fluss
Was willst du
Eine Summe von Lauten
Eine Brücke
Eine zerfasernde Leitung
So lang wie die Zigarette zwischen den Fingern
Die zu einem Punkt zusammenschmilzt
Einem winzigen brennenden Punkt
Der nirgendwo Halt macht
Der eine Antwort enthält
Die keiner erwartet
Im Kopf herrscht die Ordnung der Schlingen
Signale empfangen und senden
Die Ordnung der Schlingen
Deren Spirale löst sich oben
Im Nichts
In diesem himmelblauen Nichts
Im Arkadien der geschlossenen Augen
Ihr Grün erinnert an Algen
An Schlick
An unbetretenen Boden
Den das Wasser schützt und
Bewegt
Was willst du
Hungern und Brot backen
Gib mir einen Weg
Eine Schnur einen Kompass
Und ich gehe ihn nicht
Schneide die Ohren ab wenn du mir zurufst
Da ist Vorn oder Oben
Nagele sie an Telefonhörer fest
Um alle Stimmen zu sammeln und sie
Aus dem Schädel zu verbannen
Da ist nichts Nur die blaue
Glasklare Leere in die sich
Alles hineindrängt
Und Nichts:
Schweigen dürfen Reden müssen und
Nicht hören sollen …
Ich vergesse immer mehr Buchstaben
Beim Schreiben von Sätzen
Ich vergesse immer mehr Sätze
Beim Denken von Welten
Zwischen den Zeichen im Kopf
Liebe ich einen Mann
Der sich erhängt
Ehe er verhungert
Und Brot bäckt
Ich taumle zwischen den Schranken
Der Punkte Kommata Gedankenstriche
Fragezeichen Semikola Doppelpunkte
Aus Preußischblau auf der Suche nach einer Sprache
Die so weiß ist
Dass sie alles einschließt
Was willst du
Einen Winter aus Herbst
Eine gelbumrandete Freundschaft
Eine Liebe aus raschelnden Blumen
Einen Mond aus Gedanken
Eine bordeauxrote Frage
Und einen kleinen
Wunschlosen Tod
Der Tod sitzt
In einer gelben Straßenbahn
Mit dem Gesicht meiner Mutter
Den Händen meines Vaters
Der Telefonhörer bäckt
In einer Backstube hinter den sieben Bergen
Bäckt er die Zwerge mit ein
Der Tod ist fraglos und hat
Das Gesicht der Frau eines Bäckers
Die aus Russisch Brot
Kreuzworträtsel legt
Mit langen gebogenen Worten
Dann geht sie fort
Und gibt einem der Zwerge meinen Namen
Ehe er im sich heftig blähenden Teig
Bis zu den Augen verschwindet
Thema und Variation
gespielt am 10. Juni 1989 in Leipzigs Innenstadt
sie hatten ein seil um die stadt gelegt
sie hatten die saxophone geladen
sie hatten die geigenbögen geschärft
sie hatten die flöten geölt
in den lieder häuften sich
doppelschläge und triller
sie hatten ein seil um die stadt
gelegt aus notenschlüsseln
und sechzehntel pausen
sie hatten die schilder missachtet
: singen und musizieren verboten
sie wollten die stadt
erobern mit liedern und tänzen
das klebrige grau von den
stimmbändern jagen
die füße vom marschieren erlösen
johann sebastian schaute
regungslos zu als man das schöne
mädchen mit seinem cello
auf die ladefläche eines polizeiwagens warf
sie sang mit blutiger nase
dona nobis pacem
aus allen straßen gesellten sich
stimmen hinzu doch
gott hatte an diesem tag
sein gesicht in die unendlichkeit
vergraben und gab den menschen
recht die keine lieder haben
(1989/2014)
Am 10. Juni 1989 war in Leipzig ein Straßenmusikfestival geplant, für das jedoch keine Genehmigung von öffentlicher Seite vorlag, denn am gleichen Tag wollte die SED-Bezirkszeitung ihr Pressefest feiern. dennoch sammelten sich in den Morgenstunden zahlreiche Musikanten im Zentrum von Leipzig und musizierten vor begeistertem Publikum. Gegen Mittag
fuhren LKW der Volkspolizei vor und die Gesetzeshüter warfen Musiker mit ihren Instrumenten brutal auf die Ladeflächen, um sie zuzuführen. Diese Verhaftungen dauerten bis zum Nachmittag. Vor Beginn der Motette in der Thomaskirche wurden die letzten Musiker dort eingekesselt und festgenommen. Eine große Zahl von Passanten versammelte sich dann und sang vor dem Polizeirevier in der Innenstadt eben jenen Kanon.
die laune eines augenblicks
für ruth habermehl
vielleicht heißt sie clara johanna zaira rebekka
josefa oder antonia malin oder ruth es könnte ja ewig so weiter
gehen mit all diesen namen doch ich kenne sie nicht und
würde ihr gern ein kleid aus lauten verpassen wie
leicht könnte sie doch verloren gehen
an diesem unentschiedenen sonntag
der das licht wechselt wie ein untreuer gigolo
mit glutäugigem lächeln
als könnte er damit die lange gehegten wünsche
nach dauer vernichten
und sie? wirkt wie eben von einer wolke gefallen oder aus
dem bett des geliebten geschwebt zwischengelandet
vor meinem balkon wie jeden sonntag in der elften stunde
steht sie dort berührt mit den bloßen sohlen
das mauerwerk wie einen lieb gewordenen stoff
ganz leise wähle ich zwischen
den lauten doch wie immer leiht sie mir nur
ihren rücken und auch die arme
scheinen ihr nichts zu bedeuten
ihr kleid aus seidenchiffon organza satin
feiner wolle taft samt georgette
widersteht den fingern des windes
und immer kommt sie ohne schuhe daher
als hätte sie nichts zu verlieren
als wäre ihr selbst einer der namen zu schwer …
Garten. Weiß.
Auf Wiedersehn. Bis morgen. Bis zum nächsten Mal.
Wisława Szymborska
Aber es ist doch nicht so
dass alles verschwindet
wenn Schnee fällt
Die Dinge ändern nur ihre
Gestalt Werden weicher
und geben sich nicht mehr
so leicht zu erkennen.
Die Bäume zum Beispiel
sind nicht mehr nackt
sondern mit weißen
Eichhörnchen bekleidet
Mit Schneetauben Hasen
und diesem seltsamen Licht
welches das Auge um alle Farben
betrügt weil es sie verschlingt
in sein sorgloses Weiß So als
gäbe es immer ein erstes Mal
eine erste Berührung zum Beispiel
oder eine Form ohne Beschreibung
ein Wort ohne Nachklang
eine Gestalt ohne Namen
Aber es ist doch nicht so
wie ich schreibe Hinter den Worten
hockt immer noch eine andere
Wahrheit und krümmt sich
oder schwankt im wechselnden Licht
Denn der Schnee schmilzt irgendwann
Und im Weiß sind alle Farben zu Hause
Regen. Blau.
für Helga Maria Novak
Ich kenne keinen, der so sehr unterwegs ist und sich so sehr zurücksehnt. Der weggeht, um wiederzukommen, aber nicht auf den Knien.
Jürgen Fuchs
Der Himmel ist da und es regnet.
Feucht ist der Boden
zu hören nur ein leiser schmatzender Laut.
Fragt sie: Wie diesen Regen überleben.
Frage ich: Wie dieses Blau.
Ich krieche zu ihr zwischen die Seiten
doch die Kälte hebt sich nicht auf.
Sie wäre erreichbar von hier. Zu finden. Noch da.
Baum, Haus und Weg. Der Wind kommt von vorn
von den Seiten, keine Spur führt gerade zum Ziel.
Träfe ich einen dort, der sich erinnert an sie
wollte ich weiter nichts wissen. Nur:
Dreht sie sich wirklich nicht um, wenn sie geht?
Grünheide und Island. All die Länder dazwischen.
Vor der Kälte in den Norden geflohen. Zurück. Und immer
nur weg. Ein Haus jetzt in polnischen Wäldern.
Freunde lehnen dort zuweilen am Zaun
sprechen von Regen und Wind.
Noch immer haust innen der Feind
draußen wechselt er nur seine Maske
und spricht dieses Englisch für alle:
Blue sky and rain. I’m hungry. But why …
Ihre Verse halten sich an der Herzwand
die Silben sind mit Haken versehen.
Ein schmerzliches Glück ohne Heimat.
Ohne heilige Ordnung, die große Wörter
und kleine Bedeutungen fällt.
Ich aber denke auf Deutsch. Jage und schleife
den Vers auf der Zunge. Wünschte mir hier
ihre raue Anwesenheit, die auf Beifall verzichtet.
Noch immer voll Sehnsucht nach allem
was seinen Preis hat.
wie viel Herzen schreibt sie habe ich pochen hören
Seelen keine und ich wünsche niemand
erlitte die Qual einer Art Herberge
meiner Seele später zu werden solche
Strafe hat wirklich keiner verdient ...
Doch die neue Zeit rechnet ohne Maß
mit Vergessen. Groß sind die Münder hier.
Hungrig ohne die Leere zu fürchten
die im Inneren haust.
Was werd ich sie fragen im Regen?
In welcher Sprache: Sprechen Sie deutsch?